Mehrdeutigkeit (Ambiguität) wird in den Kulturwissenschaften immer wieder als eine Qualität betont, die nicht als Defizit, sondern als Vorzug gilt – als Möglichkeit, durch die produktive Unschärfe von Begriffen, durch ein “Arbeiten an Übergängen” (Sigrid Weigel), durch die Brechungen zwischen encoding und decoding in Botschaften und Texten (Stuart Hall) neue Auslegungsspielräume und einen erweiterten Horizont innerhalb symbolischer Systeme zu gewinnen. Systematisch bearbeitet wurde dieses Problemfeld allerdings immer noch zu wenig. In den Altertumswissenschaften trifft ein solches kulturwissenschaftliches Interpretationskonzept gegenwärtig in eine Situation, in der zunehmend quasi-naturwissenschaftliche Präzisierung, Quantifizierung, Digitalisierung und neue Hightech-Methoden der Archäologie in den Vordergrund rücken. Ein notwendiges Gegengewicht zu solchen Vereindeutigungstendenzen könnte z.B. von der Kultursoziologie ausgehen. Betont wird hier die Unverzichtbarkeit von “Mehrdeutigkeit” als “Unterbrechung der Handlungsroutinen” (Andreas Reckwitz) und dadurch als Einfallstor für kulturelle Destabilisierung und damit Innovation. Zugleich wird hier Mehrdeutigkeit als wichtiges kulturelles Konzept eingeführt, das dazu beitragen kann, ein weit verbreitetes homogenes Kulturverständnis abzulösen.

Die Frage ist, ob solche kulturelle Mehrdeutigkeit, wie sie noch von Subjekten und ihren Handlungsoptionen hergeleitet wird, auch für altertumswissenschaftliche Fragestellungen aufschlussreich sein kann, besonders auch für die Mehrdeutigkeiten in der materiellen Sphäre von Dingen. Was bedeutet “interpretative Unterbestimmtheit” in den Altertumswissenschaften? Entscheidend wäre hier, den Blick auf Deutungsspielräume,  Ambivalenzen, Unbestimmbarkeiten und Bedeutungswandel der Dinge zu richten, die verantwortlich sind für den immer wieder möglichen Wechsel in ihrer Bewertung als wichtig oder als beiläufig, als wahrnehmbar oder als ausgeblendet.

Wie groß die Reichweite und Fruchtbarkeit des Ambiguitätskonzepts sein kann, auch welche Grenzen es hat, soll im Seminar mit Blick auf ein ganzes Begriffs-Cluster (Vagheit, Polysemie, Ambiguität, Multivokalität, Evokation, Beiläufigkeit usw.) diskutiert und nicht nur auf Textauslegung, sondern auch auf Dinge und soziale Handlungen bezogen werden. Dabei kommt kulturelle Mehrdeutigkeit eben nicht nur als kulturwissenschaftliche Analysekategorie zur Sprache, sondern auch als Kategorie gesellschaftlicher Praxis (Ambiguitätstoleranz usw.).

Nach einer Einführung in die einschlägigen Diskussionen zu Mehrdeutigkeit (Ambiguität) geht die Seminardiskussion von zwei kürzeren Schlüsseltexten aus. Dabei soll ausdrücklich versucht werden, gerade auch für die eigene Arbeit neue Perspektiven zu gewinnen.

Diskussionsfragen können gern im Vorfeld per email eingereicht werden (doris.bachmann-medick@gcsc.uni-giessen.de). Um Anmeldung wird gebeten.

 

 

Lektüre zur Vorbereitung:

Andreas Reckwitz, “Kulturelle Interferenzen”, in: Andreas Reckwitz (Hrsg.): Die Transformation der Kulturtheorien. Zur Entwicklung eines Theorieprogramms, Weilerswist: Velbrück Wissenschaft, 2000, 629-637

Tim Flohr Sørensen, “In Praise of Vagueness: Uncertainty, Ambiguity, and Archaeological Methodology”, in: Journal of Archaeological Method and Theory 23 (2016), 741–763