Ein zentrales Ziel dieses Vortrags ist es, exemplarisch zu zeigen, wie man einen klassischen linguistischen Gegenstandsbereich wie die Negation mit einer umfassenden multimodalen Perspektive verbinden kann. Die beiden wichtigsten Forschungslinien linguistisch-semiotischer Multimodalitätsforschung haben die Relationen von Geste und Rede sowie Sprache und Bild zum Gegenstand (für einen Forschungsüberblick zur Gestenforschung siehe Müller et al. 2013 und 2014; zu Sprache-Bild-Relationen siehe Jewitt 2009, Stöckl 2004 sowie Schneider und Stöckl 2011). Beide stehen bisher nur in einem sporadischen Austausch und unterscheiden sich wesentlich im Medienbegriff (vgl. Posner 1986), der von ihnen zugrunde gelegt wird. Ausgehend von dem in Fricke (2012, 2013) vorgestellten Ansatz einer multimodalen Sprachbeschreibung, der beide Perspektiven integriert, werden für den Bereich der Negation Geste-Rede-Relationen und Text-Bild-Relationen miteinander verglichen.

Zentral sind dabei die folgenden Fragen: 1. Wie wirken im Bereich der Negation Geste und Rede sowie Text und Bild zusammen? 2. Inwieweit können gestische oder bildliche Zeichen allein als Negationsträger fungieren? 3. Inwieweit lassen sich Prozesse einer multimodalen Grammatikalisierung beobachten? 4. Welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede lassen sich für Geste-Rede- und Text-Bild-Relationen herausarbeiten? Auf der Grundlage von Beispielanalyen wird eine Gruppierung von vier Leithypothesen herausgearbeitet, die weiterführenden Untersuchungen zugrundegelegt werden soll: 1. Gestische und bildliche (Proto-) Negatoren sind aus körperlichen Handlungen des Entfernens von Objekten ableitbar; 2. Es gibt eine metaphorische Basis der Negation, die dadurch charakterisiert ist, dass das Negierte – welches meist abstrakt ist – als konkretes Objekt konzeptualisiert wird, das entfernt werden kann. 3. In multimodalen Negationsensembles manifestieren sich frühe Stadien des Spracherwerbs (z.B. das Entfernen und Zurückweisen von Objekten). 4. Geht man vom sog. Jespersen-Zyklus der Negation aus, dann kann multimodale Polynegation zur Grammatikalisierung von gestischen und bildlichen Zeichen im Hinblick auf eine sprachliche Negationsfunktion führen.

Nicht jede dieser Hypothesen ist isoliert für sich genommen neu (siehe z.B. Calbris 1990, 2012; Bressem und Müller 2014; Fricke, Bressem und Müller 2014; Kendon Pictures and 12 Texts — Pictures as Text 2002, 2004; Harrison 2009, 2010), ihre Wirkkraft für einen multimodalen Ansatz zur Beschreibung von Negationsphänomenen entfalten sie jedoch erst in der vorliegenden Zusammenstellung. Als wesentliche Gemeinsamkeiten multimodaler Negationsensembles in gesprochener und geschriebener Sprache ergeben sich aus ersten Beispielanalysen 1. das Entfernen eines Objekts, entweder gestisch manifestiert als Weghalten oder Entfernen eines Objekts aus dem Gestenraum oder piktorial manifestiert als Durchstreichung, und 2. die Ersetzung verbaler Negationsträger, gestisch beispielsweise durch ein verneinendes Kopfschütteln realisiert, piktorial durch die Durchstreichung eine verbalen Negationsträgers als Äquivalent zu einer doppelten Negation.

Analysen von ausgewählten Beispielen im Deutschen zeigen, dass genau diese Form der doppelten Negation mit einem zusätzlichen nicht-verbalen Negationsoperator bei redebegleitende Gesten nicht zu beobachten ist. Hier liegt ein noch unerschlossenes Gebiet für weiterführende Untersuchungen, um beide Gegenstandsbereiche der Multimodalitätsforschung, die Geste-Rede-Relationen und die Text- Bild-Relationen, auch sprachvergleichend aufeinander zu beziehen.

 

Literatur

  • Blühdorn, Hardarik (2012): Negation im Deutschen. Syntax, Informationsstruktur, Semantik. Tübingen: Narr.
  • Bressem, Jana and Cornelia Müller (2014): The family of AWAY gestures: Negation, Refusal, and negative assessment. In: Cornelia Müller, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill and Jana Bressem (Hg.), Body – Language – Communi-cation. An International Handbook on Multimodality in Human Interactionm (HSK 38.2). Berlin, Boston: De Gruyter Mouton. 1592–1604.
  • Calbris, Geneviève (1990): The Semiotics of French Gestures. Bloomington: Indiana University Press.
  • Calbris, Geneviève (2011): Elements of Meaning in Gesture. Amsterdam: John Benjamins.
  • Fricke, Ellen (2007): Origo, Geste und Raum: Lokaldeixis im Deutschen. Berlin und New York: De Gruyter.
  • Fricke, Ellen (2012): Grammatik multimodal: Wie Wörter und Gesten zusammenwirken. Berlin und Boston: De Gruyter.
  • Fricke, Ellen (2013): Towards a unified grammar of gesture and speech: A multimodal approach. In: Cornelia Müller, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill und Sedinha Teßendorf (Hg.), Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction (HSK 38.1). Berlin und Boston: De Gruyter, 733–754.
  • Fricke, Ellen, Jana Bressem and Cornelia Müller (2014 ): Gesture families and gestural fields. In: Cornelia Müller, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill and Jana Bressem (Hg.), Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction (HSK 38.2). Berlin, Boston: De Gruyter Mouton. 1630–1640.
  • Harrison, Simon (2009): The Expression of Negation through Grammar and Gesture. In: Zlatev, J. , Andrén, M., Lundmark, C. et al. (Hg.), Studies in Language and Cognition. Cambridgs Scholars Press.
  • Harrison, Simon (2010): Evidence for Node and Scope of Negation in Coverbal Gesture. Gesture 10(1):29–51.
  • Jewitt, Carey (Hg.) (2009): The Routledge Handbook of Multimodal Analysis. London: Routledge.
  • Kendon, Adam (2002): Some uses of the head shake. Gesture, 2, 147–183.
  • Kendon, Adam (2004): Gesture: Visible Action as Utterance. Cambridge: Cambridge University Press.
  • Müller, Cornelia, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill und Sedinha Teßendorf (Hg.) (2013): Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction (HSK 38.1). Berlin und Boston: De Gruyter.
  • Müller, Cornelia, Alan Cienki, Ellen Fricke, Silva H. Ladewig, David McNeill und Jana Bressem (Hg.) (2014): Body – Language – Communication. An International Handbook on Multimodality in Human Interaction (HSK 38.2). Berlin und Boston: De Gruyter.
  • Posner, Roland (1986): Zur Systematik der Beschreibung verbaler und non-verbaler Kommunikation. In: Hans-Georg Bosshardt (Hg.), Perspektiven auf Sprache: Interdisziplinäre Beiträge zum Gedenken an Hans Hörmann. Berlin und New York: De Gruyter, 267–313.
  • Stöckl, Hartmut (2004): In between modes: Language and image in printed media. In: Eija Ventola, Cassily Charles und Martin Kaltenbacher (Hg.), Perspectives on Multimodality. Amsterdam: John Benjamins, 9–30.
  • Schneider, Jan Georg und Hartmut Stöckl (2011): Medientheorien und Multimodalität. Ein TVWerbespot – Sieben methodische Beschreibungsansätze. Köln: Herbert von Halem.